Donnerstag, 28. Januar 2010

Bedrohliches Zähneklappern der Grammatik

S. 72: Die Zähne, die hinter den Lippen verborgen sind, erinnern mich nicht nur an die Sterblichkeit des Schädels, sondern auch an eine eben gelesene Stelle bei Peter Hacks' Bearbeitung des Goetheschen Stücks “Der Jahrmarkt zu Plundersweilern”. Dort, mitten in einer längeren Ausführung des Schattenreißers:

Endlich der Tempel des Geists: die Stirn.
Hinter ihr, sagt Herr Lavater, sitzt oft ein Gehirn.

Ich möchte mit diesem Zitat auf ein neues Gesicht der Grammatik hinweisen, die aufgetaucht ist wie das wahre Gesicht der Exekutive bei einer ersten Zurechtweisung durch die Polizei, die man bis dahin im Leben nur um Ortsauskünfte befragt hat.

(Verzeiht, bitte, die Nacktvermessung des Verspaars, das so etwas bochen wirkt, wie eine Sandsteinstatue von nah. Als ich die Stelle aber im Rhythmus des Zusammenhangs las, lächelte ich und gluckste vor Freude.)

Es gibt ja eigentlich recht viele Wörter wie “oft”: als harmlos geltende Messerchen, die nur in einem gar seltenen Fall wie diesem zum Schneiden kommen. Aufstand der kleinen Dinge: so im Alltag, ist man auf dem falschen Fuß aufgestanden, beim Streik der Verkehrsmittel - städtische Aphasie -*, oder wenn eine bislang liebe Person plötzlich schnippisch wird. Etwas macht darauf aufmerksam, dass der gewohnte Lauf der Dinge nicht selbstverständlich ist und leicht auch ganz anders sein kann.
Ob das stimmt oder nicht, wird sich der vernünftige Mensch fragen, ob es nicht eine ungerechtfertigte Irritierung ist; ob die ein Recht haben zu streiken; was man getan hat, um das zu verdienen, warum man sich überhaupt mit jeder unbequemen Behauptung, der es beliebt, daherzukommen, auseinandersetzen muss. Die sollen Kuchen essen, die spitzen Messer!

Heute emuliert mir die Syntax Zähneklappern. Sie emuliert ja, Kapitel für Kapitel, lauter Verschiedenes; und immer ist sie dieselbe Syntax, immer zugleich köstliche Evokation des Objekts. So wie die Tänzerin Valeska Gert (Rezension von Tucholsky: http://www.textlog.de/tucholsky-valeska-gert.html) mit ihrem Körper, ihrer Groteske, einer eigenen Taktung alles mögliche darstellt, und bei jedem das ihm Eigentümliche herausstellt, nicht etwa ihr eigenes Extrakt, welches das Mittel zu allem ist; ganz wie ein gutes Fingerschattenspiel, eine gute Combo, eine ordentliche Geige, Manna, Elixier...und eine gute Prosa.

*Gestern abend tauchten wir aus der Station Brandenburger Tor der neuen U55 in Berlin auf. Es war dunkel, bitter kalt und schneite wie aus tausend Schneekanonen. Alles war leer, nur Fahnen von Deutschland, Israel und der EU wehten in der dunklen Luft an den Kreuzungen, und ein paar Wachmänner und sehr viele Autos von Polizei. So würde es sein, dachten wir, wenn ein paar Sachen kaputtgingen in Klima und/oder Politik. Wir witterten Mammute aller Art hinter den Gittern der amerikanischen Botschaft. Um jede Ecke könnte ein Terrorist, ein Polizist, eine geheime staatliche Operation, eine Exekution, ein Spinner lauern. Doch ist die Stimmung auf dem Dorfe ja oft so, wenn auch mit weniger Terroristen. Die große internationale Gedenkveranstaltung macht also Berlin zum Dorf.
Herta Müller erinnert sich, an Städtern die dünne Bekleidung, die mangelnde Vermummung bewundert zu haben. Natürlich, Macht heißt nach außen verlagerte, delegierte Schutzmaßnahmen vor der Umwelt: Wohnung, Zentralheizung, ein Job, die Möglichkeit in Cafés einzukehren, Taxis, Hypotheken, Schulden, große Schulden und große Beträge, Wachleute, Armeen und Milizen, und Diktat des Geredes, welches die Geschäfte schützt und zu Wirbeln gebündelt, verdichtet wird, die andere Stellen ganz kalt und im Dunklen lassen.

Bäume vor Wald

die Freuden der Jagd

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